Während „Espejo“ in immer größerer Geschwindigkeit Gestalt annimmt, erreichte uns ein Gastbeitrag, der einen wichtigen Teil des Filmes gleichsam vorwegnimmt. Marc Frick (Heidelberg) über die indigene Idee des Sumak Kawsay, westlichen Ökonumismus, die Wiederkehr von Geschichte und einen möglichen Sieg von David über Goliath:
Pachamamas‘ Leibgarde
von Marc Frick
Ich möchte diesen Beitrag nicht mit einem Lamento über die schreckliche Ungleichheit, die klaffende Lücke zwischen Arm und Reich oder die korrupte Politikerklasse in vielen Ländern Südamerikas beginnen, möchte nicht schockiert von den Missständen erzählen, die einem in Argentinien und vielen Ländern Südamerikas begegnen können und werden.
Erzählungen davon gibt es schon genug und ich möchte hier nichts verschweigen oder beschönigen: diese Missstände sind Teil der Realität des Subkontinents. Dennoch erscheint es mir bisweilen, als ob die vielen Reiseblogs und Reportagen sich nur auf die dunklen und tragischen Geschichten stürzten und darüber vergessen, warum es Jahr für Jahr tausende Rucksacktouristen, Kulturbegeisterte und Auswanderer in die Länder Südamerikas zieht.
Stattdessen möchte ich das Prinzip umkehren und von den zahlreichen Lamenti ausgehen, die in den letzten Monaten und Jahren den Ereignissen in Europa gewidmet wurden und versuchen, mithilfe von Konzepten alter und nahezu vergessener indigener Kulturen Südamerikas einen möglichen Ausweg aufzuzeigen.
Europa (und mit Europa letztlich die gesamte westliche Welt) steht seit nunmehr 6 Jahren vor immer wiederkehrenden Problemen, die das vorherrschende Lebens- und Wirtschaftsmodell in Frage stellen und den Wohlstand massiv bedrohen. Klimawandel und multiple ökologische Katastrophen, zyklisch auftretende Krisen in Finanz- und Realwirtschaft und die damit einhergehende Perspektivlosigkeit einer ganzen, sehr gut ausgebildeten Generation junger Menschen führen immer wieder in Sackgassen und werden regelmäßig zu Zerreißproben für die internationale Gemeinschaft. Ein Begriff tritt im Zusammenhang mit der Sphäre des ökonomischen Handelns immer wieder ins Rampenlicht: Maßlosigkeit.
Die maßlose Gier der Banker, ein maßlos befeuerter Konsumismus und die maßlose Entfesselung der Marktkräfte werden als zentrale Urheber der Krisen angeführt, die uns in jene schwierige Situation gebracht haben, in der wir uns heute wiederfinden.
Dabei ist Maßlosigkeit in Verbindung mit der wirtschaftlichen Befriedigung von Bedürfnissen nicht einmal ein besonders neues Phänomen. Sie scheint vielmehr eng mit dem westlichen Wirtschaftsverständnis verbunden zu sein. So warnte Aristoteles (384-322 v. Chr.) die Stadtgesellschaft des antiken Athens vor Irrwegen und fehlenden Grenzen:
Grund für die Gesinnung [die Maßlosigkeit] ist die emsige Bemühung um das Leben, doch nicht um das gute Leben, weil aber jenes Begehren ins Grenzenlose geht, so begehren sie auch unbegrenzte Möglichkeiten, dies zu bewerkstelligen. (Aristoteles, Politik: 1257 b – 1258a).
1843 analysiert Karl Marx das Verhalten der Menschen mit den Worten:
Jeder Mensch spekuliert darauf, dem anderen ein neues Bedürfnis zu schaffen, um ihn zu einem neuen Opfer zu zwingen, um ihn in neue Abhängigkeit zu versetzen und ihn zu einer neuen Weise des Genusses und damit des ökonomischen Ruins zu verleiten. (ökonomisch-philosophische Manuskripte, Heft III).
Und bis heute definiert jedes Standardwerk zur Einführung in die Volkswirtschaftslehre die Bedürfnisse der Menschen als prinzipiell grenzenlos.
Die Ankunft der zivilisierten Welt
Man darf sich den Moment durchaus als komisch, vielleicht sogar verstörend vorstellen, in dem die von den geschilderten Wirtschaftskonzepten geprägten Europäer um 1500 in Städte wie das bolivianische Potosí einfielen und feststellen mussten, dass die begehrten Edelmetalle Gold und Silber zwar im Überfluss vorhanden waren und durchaus als schmückende Elemente Verwendung fanden, jedoch keine nennenswerte ökonomische Bedeutung hatten. Eine Silber-und Goldmenge, die der Legende zufolge zum Bau einer Brücke zwischen Potosí und Madrid ausgereicht hätte, blieb also ökonomisch weitestgehend ungenutzt. Zwar hatten die Inka die Silbervorkommen des Cerro Rico schon entdeckt und das Silber fördern lassen. Anders als die Europäer verfolgten sie jedoch keine auf Wachstum ausgerichtete wirtschaftspolitische Strategie (in Europa herrschte die ökonomische Schule des Merkantilismus), sondern lebten nach den Gesetzen des Sumak Kawsay (Buen Vivir = Gutes Leben). Dieses Konzept des guten Lebens hatte in der indigenen Tradition den Status einer Ethik inne und verfügte über ein gewachsenes System von Werten und Normen. Im Zentrum dieses Systems steht das überlebenswichtige Miteinander von Mensch und Natur. Die Pachamama, die heilige Mutter Erde, wird in den Stand eines eigenständigen Subjekts erhoben, ihre Rechte und Unversehrtheit zu schützen hat einen ebenso großen Stellenwert wie der Schutz der Rechte eines Mitmenschen. Diese zentrale Rolle der Natur prägt die gesamte Ausgestaltung der Gesellschaft entscheidend: Wirtschaftliche Entwicklung nach der Logik „höher, schneller, weiter“ wird ausgeschlossen, eine lineare Entwicklung von unterentwickelt zu entwickelt hat im Denksystem des Sumak Kawsay keinen Platz. Stattdessen herrscht das Verständnis einer qualitativen, lebenslänglichen Entwicklung. Materieller Wohlstand tritt hinter das Ziel eines Lebens im Einklang mit der Natur zurück und verliert gegenüber zentralen Werten wie Wissen und Erfahrung, sozialer und kultureller Anerkennung an Bedeutung.
Kleinbauern und Agrarmultis: Die Geschichte wiederholt sich
Eduardo Galeano schreibt im Vorwort der 11. Auflage seines Klassikers Die offenen Adern Lateinamerikas, dass er von Auflage zu Auflage hoffe, der Inhalt seines Buchs werde an Aktualität verlieren und die Tragik Lateinamerikas eine Ende finden. Statt der Erfüllung dieser Hoffnung müsste er seinen Klassiker wahrscheinlich mittlerweile um einige Tragödien ergänzen. Das Phänomen des Landgrabbings liese sich dabei problemlos als ein weiteres Kapitel nahtlos einzureihen.
Und, ähnlich wie im Potosí zu Zeiten der Eroberung des Subkontinents, treffen auch in diesem Kapitel zwei vollkommen unterschiedliche Wirtschafts- und Lebensführungskonzepte aufeinander. Während die Kleinbauern im Inland der Provinz Santiago del Estero ein Leben der Anpassung an die harten klimatischen Bedingungen führten und Konzepte zur Bewirtschaftung des trockenen, nahezu entvölkerten Gebiets entwickelten, ist die große, industriell nicht erschlossene Landschaft für große, global agierende Agrarunternehmen schlicht ungenutztes Kapital. Ohne Rücksicht auf Bewohner, Traditionen und das empfindliche Ökosystem werden riesige Flächen aufgekauft und mit Monokulturen (besonders Soja und Mais) bewirtschaftet. Orientierung bietet dabei allein die herrschende Marktnachfrage und eine gnadenlose, kapitalistische Logik. Langfristige ökologische Planung, Berücksichtigung der lokalen Bevölkerung und Kultur oder eine Perspektive über den nächsten Quartalabschluss hinaus, haben im Denken der Lenker dieser Unternehmen keinen Platz.
In dieser Ignoranz könnte im Fall der Kleinbauernbewegung in Santiago del Estero nun ein großer Vorteil der Kleinbauern liegen, die den reichen Enteignern tapfer Paroli bieten. In den Landgebieten Santiagos wird bis heute Quichua, ein Dialekt der Inkasprache Quechua, gesprochen und werden Tradition des Inkaerbes gelebt. Diese Tradition zeigt sich nicht zuletzt im Umgang mit dem Kampf gegen die Übermacht der internationalen Investoren. Denn die hoch spezialisierten und bestens bezahlten Anwälte aus den Rechtsabteilungen der Unternehmen sehen sich einem Gegner gegenüber, der sich nicht von Finanzkraft und investorenfreundlichen Gesetzesauslegungen unterkriegen lässt. Der materiell überlegenen Wirtschaftslobby setzt das Movimiento Campesino Santiago del Estero – via Campesina (MOCASE-VC) ein solidarisch organisiertes Netzwerk entgegen, das sich mit dem Mut der Verzweiflung und einem bedingungslosen Füreinander gegen die Vertreibung aus ihrer Heimat und von ihren traditionellen Anbaugebieten wehrt.
Und ausnahmsweise scheint sich hier zumindest die Möglichkeit eines Triumphs von David gegen Goliath zu ergeben und damit auch eine Chance für die Bewahrung der Idee des guten Lebens in Anlehnung an die Tradition des Sumak Kawsay gegen die Übermacht der Logik eines viele Male gescheiterten europäischen Verständnis des guten Lebens als maßloses Streben nach Mehr.