Anja Neumann, eine Zuschauerin von Sachamanta, verfasste zum Film einen Text, der weit über eine Filmkritik hinausgeht. Der Text hat uns fasziniert. Vielleicht weil in diesem Text die Erklärung dafür steckt, warum ein Film aus dem fernen Argentinien die Köpfe und Herzen des Publikums in der Bundesrepublik so erreichte, wie es Sachamanta tat.
So stehe ich unter den Campesin@s
Anja Neumann (Berlin) über Grenzen und wie wir mit ihnen (nicht) umgehen.
Lektoriert von Paul Pikus
Eine der Szenen, die mich am meisten in Sachamanta bewegte, ist die, in der die Bauern den Draht-Zaun durchtrennten. Mit ganz einfachen Mitteln. Mit Äxten. Mit Hämmern. Mit Kraft. Es ist ein langer Zaun. Sein Ende ist nicht sichtbar. „Wir begehen keinen Landraub.“, erzählt der indigene Kleinbauer mit ruhiger Stimme im OFF, „Wir holen uns unser Land zurück.“
Die Kamera hält sehr dicht drauf. Es ist eine lange Einstellung. Die Szene berührte mich. Und sie machte mich unruhig. Erst später stellte ich mir die Frage nach dem Warum.
Inzwischen glaube ich, die Szene berührte mich deshalb so, weil sie selbst eine Grenze überschritt. Hier war etwas, das ich so vorher noch nicht gesehen hatte. So nah dran zu sein, wenn Menschen eine Grenze niederrissen. Als stünde man direkt daneben. Als sei man dabei. Eine Grenze, die ihnen von unbekannten neuen Eigentümern gesetzt worden war. Eine Grenze, die ihr Leben und dessen Grundlagen einschränkte.
Einiges wusste ich schon vorher von der Bewegung der Kleinbauern in Argentinien: dass es sie gab, dass sie kämpfen. Einige Zeit schon. Wer sich bei uns für diese Dinge interessiert, kennt sie eben auch im Allgemeinen. Man weiß auch von den argentinischen Betrieben, die von ihren Besitzern aufgegeben wurden. Und dann von der Belegschaft weiter geführt. Naomi Klein hatte darüber einen Film gemacht. Sehenswert.
Das Neue war hier aber durchaus, so nah dran zu sein. Genau zu sehen, wie die Drähte durchtrennt wurden. Als würden mir die Bäuerinnen und Bauern zeigen wollen, wie das geht. ‚Schau zu, es ist ganz einfach. Hier musst Du die Axt wie einen scharfen Meißel ansetzen und dann schlägt Du mit einem kurzen aber kräftigen Schlag mit dem Hammer auf den Rücken der Axt. So geht das. Und jetzt Du!‘
Fragen über Fragen
Mitten unter den Campesin@s stand ich da und dachte, dass das eigentlich Bedeutsame immer hinter den Dingen liegt. Während sie hämmerten, schnitten, den endlosen Zaun zurückdrängten, bildeten sich in meinem Kopf langsam aber zielsicher Fragen. Die erste Frage war dabei, unwillkürlich und ein wenig erschreckt: „Dürfen die das eigentlich?“
Und schon in dieser ersten Frage liegt etwas Entscheidendes. „Dürfen die das?“, fragt man. Man fragt nicht: „Durften die neuen Grundbesitzer es eigentlich? Durften die mitten durch das Land der Campesin@s ihre Zäune zu ziehen?“
Sie taten es einfach. Weil sie es konnten. Das führt zur nächsten Frage. Sie stellt sich von selbst. ‚Warum konnten sie dies eigentlich?‘ Und schon die nächste Frage: „Wem gehört denn das Land? Denen die es gekauft haben, mutmaßlich um damit zu spekulieren? Oder denen, die unmittelbar vor Ort das Land bebauen, um davon leben?“
Und genau dann, in diesem Moment, drängt sich die für uns wichtigste aller Fragen auf. Beim Sehen dieser langen Sequenz taucht sie einfach auf. Sie will eine Antwort haben, geht vorher nicht davon und sie hat sehr viel Geduld. Sie lautet: „Würden wir uns das auch trauen? Hätten wir den Mut, den Zaun zu durchtrennen?“
Hätten wir? Würden wir? Und wenn nicht, warum dann nicht? Eine Antwort von vielen ist vielleicht: Bei uns sind die Grenzen nicht so deutlich sichtbar. Sie tarnen sich besser, sie ziehen sich unter anderem durch alle Arten von Gesetzen und Verordnungen. Und sie dringen damit langsam und unmerklich in unseren Alltag hinein. Aber sie sind ja dennoch da. Wir können sie spüren. Wir spüren sie seit einer ganzen Weile sogar immer deutlicher. Sie schränken unser Leben immer weiter ein. Sie nehmen uns die Luft zum Atmen. Sie setzen uns unter einen immer größeren Druck. Sie machen krank.
Die Herkunft des Zauns
Jean-Jacques Rousseaus berühmt gewordener Satz aus dem „Diskurses über die Ungleichheit“ gilt bis heute. Er beschreibt unser Leben in einer Welt, in der die Vermögensverhältnisse, die gesellschaftliche Teilhabe und die politische Macht immer ungleicher verteilt sind:
„Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen, ,Dies ist mein‘ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.“
Zwischen den Leben einer kleinen dreisten Minderheit und den Leben einer verarmenden Mehrheit stehen sie heute, diese Zäune. Sie schützen die einen. Sie sperren die anderen ein. Sie sind errichtet auf einer Erde, die es lange gab, bevor der Privatbesitz erfunden war. Ohne Zäune.
In Sachamanta sehen wir nun einen dieser Zäune fallen. In Argentinien. Ganz einfach so. Und die Frage stellt sich: Wieso will es uns nicht gelingen, hier bei uns das Gleiche zu tun und die künstlich errichteten Grenzen zu fällen? Liegt das wirklich nur an der fehlenden Sichtbarkeit dieser Zäune? Wollen wir glauben, es sei so? Wollen wir uns glauben machen, es läge daran? Weil es dann leichter fiele, die eigene Ohnmacht zu ertragen? Oder wollen wir einfach einmal damit aufhören, uns selbst zu veralbern? Also, was ist der wahre Grund?
Jeder Mensch für sich allein
Ich stehe unter den Campesin@s und sehe den endlosen Zaun fallen. Pfahl um Pfahl. Draht für Draht. Ich bin dort. Aber in Gedanken bin ich auch schon wieder daheim. Vor meinem geistigen Auge stelle ich mir vor, wie wir hier in Deutschland handeln würden.
Ich sehe uns an den Pfosten des endlosen Zaunes sitzen. Jeder Mensch für sich. Jeder nur ein Pfahl. Die einen traurig und mutlos. Die anderen rüttelnd an „ihrem“ Pfosten und skandierend, ‚er müsse heraus gerissen werden‘. Aber jeder bliebe an seinem P(f)osten. Sitzend oder stehend. Tätig oder Untätig. Und doch von Pfosten zu Pfosten würden wir uns gegenseitig unser Leid klagen Wir klagten darüber, dass wir eingezäunt sind. Viele von uns würden hinüber auf die Weite jenseits des Zauns blicken, voller Sehnsucht danach, dort frei sein zu können. Und sicher würden wir auch berührende Lieder singen über diese Weite. Wir würden wohlformulierte Reden verfassen über unser Eingezäuntsein und Petitionen, in denen wir die Mächtigen darum bitten, den Zaun wieder zu entfernen, den sie errichtet hatten, um ihre Interessen durchzusetzen.Wir würden den Zaun analysieren, seine soziale und ökonomische Implikation erfassen und anderen dozieren. Aber keiner von uns würde seinen Pfosten verlassen. Und so stünden wir jeder für sich. Allein.
Wir wissen, dass der Zaun falsch ist. Aber wir tun nichts dagegen, weil es kein „Wir“ gibt, dass etwas dagegen tun könnte oder wollte. Wir nehmen unsere Pfähle auf uns wie ein Kreuz. Wir sagen uns gegenseitig: „Das ist mein Leben – was weißt Du schon davon, welche Bedrängnisse es enthält.“ Oder: „Es kümmert sich ja auch keiner um mich.“ Oder: „Ich reiße meinen eigenen Pfahl noch aus. Und: „Du lebst nur von meinen Steuern.“
Die Bäuerinnen und Bauern aber haben sich zusammen getan. Und zusammen durchtrennen sie den Zaun. Einfach so. Weil es notwendig ist. Und weil sie das wissen. Weil sie das Land seit Jahrzehnten bebauen. Und weil sie es sich damit angeeignet haben. Weil sie davon leben. Weil es ihre Lebensgrundlage ist. Ohne die sie nicht leben könnten. Ohne die sie in die Stadt gehen müssten. Um dort den Herren zu dienen, die ihnen das Land auf diese Weise genommen haben.
Sie verteidigen ihr Leben, während wir uns in unseren Städten mit dem Leben begnügen, das man uns zuweist. Wir müssten es nicht.
Argentinien war, wie einige andere lateinamerikanische Länder auch, schon einige Jahrzehnte vor uns vom Erstarken des Neo-Liberalismus betroffen. Dessen Vorgehensweise ist bei uns im Kern die gleiche wie dort auch. Auch wenn man bei uns in der Form etwas anders vorgeht. Der Neoliberalismus geht in der Sache überall gleich vor, denn die Formen des Angriffes passen sich den jeweiligen regionalen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen an. In einem Raubzug um die Erde sucht der Kapitalismus Lebensgrundlagen in Kapitalmassen zu verwandeln und schützt sich durch Zäune, die sich dann durch unser Leben ziehen und uns von diesen, unseren Lebensgrundlagen trennen.
Der Feldzug der langen Zäune
Bei uns in Deutschland privatisieren sie die Daseinsvorsorge aus Wasser, Strom, Gesundheit und Bildung. In Argentinien sind es genmodifiziertes Saatgut und umweltschädlicher Dünger, der das karge Land der Campesin@s als Sojaland kapitalisieren soll. Hier bei uns soll ein Freihandelsabkommen die Regierungen in Handlanger der Konzerne verwandeln. Dort sind Abkommen dieser Art bereits Schnee von gestern. Für Jahrzehnte waren die Länder Lateinamerikas die Gefangenen im Freihandel mit der westlichen Welt. Jetzt haben immer mehr von ihnen den Hals voll und linke Regierungen steuern die ökonomische und soziale Emanzipation ihrer Länder von den Interessen des Westens. Und auf der ganzen Welt lassen sich heute Konzerne den genetischen Code für Pflanzen und Tiere patentieren. Nur das der Widerstand dagegen in Lateinamerika bei weitem heftiger ausfällt. Er ist eben länger eingeübt. Aus Argentinien ist der „Global Player“ Monsanto unlängst herausgeworfen worden. Bei uns begehrt der Konzern gerade erst Einlass, wenn nicht direkt, dann über das Freihandelsabkommen TTIP und damit gegen den Willen des größten Teils der Bevölkerung.
Die Sehnsucht, die ich meine
Argentinien ist daher immer wieder ein Land, auf das ich gerne schaue, wenn ich wissen will, was der Neoliberalismus für Folgen und Erscheinungen hat und vor allem, wie man ihm beikommen kann. Auf lange Sicht. Denn bei uns hat der Feldzug der langen Zäune ja gerade erst richtig begonnen.
So stehe ich unter den Campesin@s und kenne auf einmal die Antwort auf meine Fragen. Ich stelle mir nichts mehr vor. Ich stelle mich vor. Ich sage ihnen meinen Namen. Ich lasse mir eine Axt geben und reiche einen Hammer weiter. Wir zertrennen den Zaun gemeinsam und dann gehen wir weiter. Eine stetig wachsende Gruppe geht von Pfahl zu Pfahl holt die dort allein stehenden Menschen ab. Der nächste Pfahl muss ausgerissen werden. Der nächste Draht muss durchtrennt werden. Es ist noch viel zu tun. Der Zaun ist noch verdammt lang. Er reicht durch alle Länder der Erde. Aber wir schaffen das schon. Gemeinsam schaffen wir das. Wir werden den Zaun bald überall einreißen können, solange wir verstehen lernen, dass wir uns zusammen tun müssen. Wir. Gemeinsam und solidarisch.
Und das ist es, was ich wünsche. Das ist die Sehnsucht, die ich an meinem Berliner Pfosten verspüre, wenn ich über die Grenzen des uns allen gesetzten Zaunes schaue.